Lebensretter in der Hosentasche: Wie Android-Handys vor Erdbeben warnen

Bei schweren Erdbeben – hier in der Türkei und Syrien – sind schnelle Warnungen besonders wichtig. Wie Smartphones dabei helfen können, wird gerade geprüft. (Foto: dpa)
Eigentlich wurden Bewegungssensoren in Smartphones dafür entwickelt, die Anzeige korrekt auszurichten oder Schritte zu zählen. Nun sollen sie auch bei Erdbebenwarnungen helfen – vorrangig dort, wo teure Messtechnik fehlt, zum Beispiel in manchen Regionen Südostasiens. Die Nutzenden müssen dafür lediglich eine App installieren. Voraussetzung ist ein Mobiltelefon mit einem Android-Betriebssystem.
IT-Fachleute und Seismologen von Google, der University of California und der Harvard-Universität haben die App entwickelt. Sie berichten in Science, das Warnsystem „Android Earthquake Alerts“ (AEA) liefere ausreichend gute Daten, um bei Erdbeben zuverlässig zu warnen. Der Nutzen sei auch deshalb so groß, weil Android-Phones 70 Prozent aller Mobiltelefone weltweit ausmachten. Erdbebenwarnungen können Betroffenen jene – oft überlebenswichtige – Sekunden Vorlaufzeit geben, um sich bestmöglich zu schützen.
Fünf Millionen Smartphones in 98 Ländern
Drei Jahre lang hatten die Forschenden das System getestet. Sie haben Daten gesammelt, ausgewertet und ihre Ergebnisse mit Informationen aus anderen Datenbanken zu Erdbeben verglichen. Mittlerweile haben mehr als fünf Millionen Menschen in 98 Staaten die Warn-App auf ihren Android-Phones geladen.
Die Bewegungssensoren in ihren Smartphones detektieren die für Erdbeben charakteristischen sogenannten P- und S-Wellen. Diese breiten sich mit höheren Geschwindigkeiten aus als die oft zerstörerischen Oberflächenwellen und werden deshalb für Warnungen genutzt. Dabei hilft, dass auch diese beiden Wellentypen unterschiedlich schnell sind.
P-Wellen traktieren die Erde in Ausbreitungsrichtung, drücken sie zusammen und ziehen sie wieder auseinander, ähnlich wie ein Akkordeon die Luft. Diese Wellen breiten sich schneller aus und kommen früher am Sensor an als S-Wellen, die quer zur Ausbreitungsrichtung schwingen.
Aus den Laufzeitunterschieden und der Intensität dieser Wellen sowie ungefähren Standortdaten der Smartphones ermittelt das Warnsystem den Ursprungsort und die Stärke eines Bebens. Bei Magnituden ab 4,5 schickt es eine Warnung raus.
Nur dreimal falscher Alarm
Das System misst P-Wellen bei Erdbeben der Stärke 5 aus 200 Kilometern Entfernung zuverlässig und S-Wellen aus einer Entfernung von 350 Kilometern. Das Feedback der Nutzer:innen zeigt, dass 36 Prozent der Warnungen eintrafen, bevor sie Erschütterungen wahrnahmen. 28 Prozent kamen zeitgleich und 23 Prozent nach der körperlichen Wahrnehmung eines Bebens.
In der Testphase detektierte das System zum Beispiel für die Türkei monatlich durchschnittlich 312 Beben mit Magnituden zwischen 1,9 und 7,8. Insgesamt sendete es 1279 Warnungen. Nur dreimal gab es falschen Alarm. Zwei dieser Fehlwarnungen konnten die Entwickler Gewittern zuordnen. Die dritte führte sie auf eine Massenbenachrichtigung zurück, die bei vielen Smartphones gleichzeitig einen Vibrationsalarm auslöste.
Die Algorithmen seien mittlerweile verbessert worden, schreiben die Entwickler. Bisher habe es keine weiteren Fehlalarme gegeben. Gleichwohl arbeitete das Team weiter daran, die Genauigkeit des Systems noch zu verbessern.
Grenzen bei sehr starken Beben
„Es ist ein interessantes Produkt und sehr hilfreich. Es schließt Lücken, gerade in weniger entwickelten Regionen“, sagt der Erdbebenforscher Lars Ceranna von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover.
Ein bisschen Kritik hat er aber auch. So komme das System bei sehr starken Beben mit einer Magnitude ab etwa 6,5 an Grenzen. „Und das ist auch keine Überraschung, denn die Bruchzonen sind bei solch starken Beben oft zig, manchmal hunderte Kilometer lang. Das Smartphone-System ermittelt aber immer nur einen Punkt als Quelle eines Bebens und unterschätzt die Wucht“, erklärt er.
Das müsse noch verbessert werden und auch die Tiefe einer Erdbebenquelle stärker berücksichtigt werden, fordert der Experte. Diese beeinflusse die Folgen eines Bebens maßgeblich. „Ein Beben der Magnitude 5 in fünf Kilometern Tiefe hat einen stärkeren Einfluss als ein Beben der Stärke 5 in 50 Kilometern Tiefe.“
Aus wissenschaftlicher Sicht fehlen dem BGR-Experten zudem Daten, wie empfindlich das Smartphone-Warnsystem reagiert und wie groß der Benefit tatsächlich ist. „Man könnte doch sagen: Wir gucken uns das erstmal in Japan an, wo es tausende Seismometerstationen gibt und viele Menschen mit Handy. Und dann gehen wir in ein Gebiet mit dünnerem Netz und schauen: Was ist der Gewinn?“, erklärt er.
Dass die Smartphone-Technik künftig die seismologischen Observatorien ersetzen könnte, glaubt der Erdbebenforscher nicht. „Allein schon, weil die Handy-Systeme die klassische Seismologie zum Kalibrieren brauchen. Die Sensoren in den Smartphones sind etwa um den Faktor tausend bis zehntausend ungenauer. Die fehlende Klasse wird hier mit Masse ausgeglichen.“
Kommerzielle Interessen
Da Google die Entwicklung finanziert, liegt der Verdacht nahe, dass es nicht zuletzt um kommerzielle Interessen geht. Auch Ceranna hält das für möglich. „Ich hoffe aber, dass das Unternehmen noch stärker mit Seismologen wissenschaftlich zusammenarbeitet“, sagt er.
Gegenüber Nature erklärt Google, man wolle „so transparent wie möglich über die Funktionsweise und Leistung des Systems informieren“. Aufgrund von Datenschutzbedenken sei es jedoch schwierig, Rohdaten von den Smartphones der Nutzer weiterzugeben. Der Studienautor Richard Allen, Seismologe an der University of California, Berkeley, und Gastdozent bei Google sagt, der Artikel in Science solle so viel wie möglich über die Funktionsweise des Systems Aufschluss geben. „Das ist wirklich der Ursprung dieses Artikels. Ich hoffe, dass die Community das anerkennt und zu schätzen weiß.“
Positiv fällt auf jeden Fall das Feedback der Menschen aus, die das Warnsystem schon nutzen. Die Entwickler haben dazu einen kleinen Fragenkatalog in die App integriert. Rund 85 Prozent der Nutzenden meldeten laut Studie zurück, sie halten die App für „sehr hilfreich“.